Selbst bei absoluter Fahruntüchtigkeit kann die Gegenseite zu 100 % haften!
Der vorfahrtberechtigte Kläger kollidierte mit seinem Pkw in einem Kreuzungsbereich mit dem Fahrzeug des Beklagten, der aus einer untergeordneten Straße kam. Im Unfallzeitpunkt war der Kläger mit einem festgestellten Blutalkoholwert von 1,77 Promille unterwegs und daher absolut fahruntüchtig.
Der Versicherer des Beklagten hat vorgerichtlich nur 75 % des Schadens des Klägers reguliert und hierzu argumentiert, der Kläger sei aufgrund seiner Alkoholisierung nicht in der Lage gewesen, die Verkehrssituation richtig einzuschätzen und sein Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Wäre der Kläger nüchtern gewesen, hätte er den Unfall durch rechtzeitige Reaktion verhindern können.
Das Amtsgericht hat das Regulierungsverhalten des Versicherers bestätigt und die auf vollen Schadenersatz gerichtete Klage abgewiesen: Ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille gelte die unwiderlegbare Vermutung der absoluten Fahruntüchtigkeit. Zur Feststellung der absoluten Fahruntüchtigkeit genüge der Nachweis einer bestimmten Mindestblutalkoholkonzentration des Fahrers, ohne dass weitere Anzeichen unsicherer Fahrweise vorliegen müssten. Es komme hierbei auch nicht darauf an, ob man beispielsweise aufgrund von langer Alkoholgewöhnung im Einzelfall das Fahrzeug noch sicher hätte beherrschen können. Diese dem Strafrecht entnommenen Maßstäbe müsse sich der Kläger auch im Rahmen des zivilrechtlichen Schadenersatzprozesses entgegenhalten lassen, da auch hier unwiderleglich davon ausgegangen werden müsse, dass er zum Unfallzeitpunkt zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht in der Lage war. Es sei unwiderleglich davon auszugehen, dass er aufgrund seiner erheblichen Alkoholisierung die Verkehrssituation nicht richtig eingeschätzt hat und sein Fahrzeug daher nicht mehr rechtzeitig zum Stehen bringen konnte.
Hiergegen ist der Kläger in Berufung gegangen.
Das Landgericht hat die Entscheidung des Amtsgerichts abgeändert und den Beklagten dazu verurteilt, dem Kläger vollen Schadenersatz zu zahlen: Auch wenn der Vorfahrtberechtigte absolut fahruntüchtig ist, haftet er im Falle eines Unfalls nur mit, wenn positiv festgestellt werden kann, dass sich diese absolute Fahruntüchtigkeit in dem Unfallgeschehen auch tatsächlich niedergeschlagen hat. Beweisbelastet ist insofern der wartepflichte Beklagte. Da dieser aber nicht beweisen konnte, dass der Unfall einem Nüchternen nicht passiert wäre, sondern insofern nur Mutmaßungen und Spekulationen angestellt hat, muss sich der Kläger trotz seiner erheblichen Alkoholisierung kein Mitverschulden anrechnen lassen.
(Landgericht Hamburg, Urteil vom 17.4.2019 – 331 S 37/18)